Um die im Knowledge Graph für den Deutschlandtourismus zusammengetragenen und aufbereiteten Daten effektiv nutzen zu können, sind konkrete (digitale) Services und Produkte erforderlich, welche die Daten in Wert setzen. Die dahinterstehende Vision ist die einer Smarten Destination, in welcher die digitalen Einzelelemente integrativ ineinandergreifen, um ein nahtloses und digital bereichertes Gästeerlebnis zu kreieren. Hierzu braucht es innerhalb der Destination und bei den einzelnen Leistungsträgerinnen und Leistungsträgern wie Hotels oder Restaurants sowie bei (teil-)öffentlichen Organisationen wie Museen oder Schwimmbädern agile Prozesse und Strukturen, die kreative, flexible und überregional integriert gedachte Produktentwicklungen ermöglichen. In diesem Beitrag werden Hilfestellungen gegeben, wie an eine solche agile Produktentwicklung herangegangen werden kann.

Was verstehen wir unter digitalen Services und Produkten?

Unter einem digitalen Produkt können alle digital aufbereiteten touristischen Leistungen subsumiert werden. Das sind zum Beispiel Erlebnispakete, das Zimmer im Hotel oder das Ticket in der Freizeiteinrichtung. Wenn Daten in Form von digitalen Services wie Apps – wie zum Beispiel die Wolfenbüttel App – oder Portalen veredelt werden sollen, dann gehören dazu neben der Möglichkeit einer digitalen Buchung der genannten Leistungen zusätzlich Daten wie zum Beispiel Angaben zu Rad- und Wanderwegen oder zu Naturerlebnissen. So können nicht nur buchbare Leistungen digital vertrieben, sondern es wird ebenso der gesamte Aktionsraum der Gäste digital abgebildet. Daraus können in der Folge diverse digitale Serviceleistungen erschaffen werden, welche Inspirationen und Informationen, Navigationshilfen, Buchungsmöglichkeiten usw. bereithalten.

Praxisblick

Ein Beispiel, was aus verfügbaren Daten entstehen kann ist die auf die Zielgruppe „Familien“ zugespitzte Web-App „Rosa Krokodil“, mit der familienfreundliche Ausflugsziele und auch Geheimtipps erkundet werden können.

Diese Angaben sind nach Möglichkeit so aufzubereiten, dass sie vollständig, aktuell, hochwertig, einheitlich strukturiert und lizenzrechtlich offen sind, damit sie für unterschiedlichste digitale Kanäle eingesetzt werden können und unabhängig von der jeweiligen Anwendung sind, in der sie ausgespielt werden.

Wie sieht die Produktentwicklung aus?

Die Umsetzung der Produktentwicklung kann sowohl konstant innerhalb des jeweiligen Unternehmens realisiert werden als auch kompakt in Formaten wie Design Sprints, Hackathons oder Service Jams erfolgen, wo in kurzer Zeit Services und Produkte entwickelt werden, die dann am Markt getestet werden können.

Praxisblick

Design Sprints werden im Tourismus bereits erfolgreich eingesetzt und eignen sich für diverse Fragestellungen touristischer Akteure. Die Ruhr Tourismus GmbH nahm sich zum Beispiel eine Woche Zeit für einen solchen Sprint, um einen digitalen Reiseführer zu entwerfen, der dann auch direkt mit echten Gästen getestet werden konnte. Daneben wurden diejenigen, die an dem Sprint teilnahmen, natürlich auch in Methoden des Design Thinkings intensiv geschult.

In der Regel werden bei solchen Veranstaltungen und auch in den Unternehmen selbst Methoden agiler Innovationsprozesse aus den Bereichen des Service Designs oder Design Thinkings eingesetzt. Diese sind durch verschiedene Merkmale geprägt, die sich von klassischen Arbeitsprozessen unterscheiden. Während es unzählige komplementäre Modelle zu diesen Methoden und Arbeitsweisen gibt, die sich jeweils unterscheiden, finden sich doch Parallelen, die sich auf die folgenden drei Punkte verdichten lassen:

1 Problem- und Lösungsraum

Es wird zwischen einem Problem- und einem Lösungsraum differenziert. Bei Innovationsprozessen wird also explizit darauf geachtet, dass man das Problem richtig versteht, bevor man mithilfe von Kreativmethoden eine Lösung kreiert. Dies ist ein sehr wichtiger Punkt, der oftmals vernachlässigt wird und der sich mit dem Leitspruch: „Find the right problem before solving it right“ zusammenfassen lässt.
Ein Beispiel zur Illustration: Auf einem Flughafen wird im Rahmen einer Studie festgestellt, dass ältere Menschen die Toiletten deutlich häufiger aufsuchen als andere Reisende. Eine naheliegende Lösung wäre es nun, die Toiletten auf Ältere auszurichten und diese zum Beispiel barrierefreundlich zu gestalten. Wenn man sich jedoch mehr Zeit nimmt, um diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, so kommt man zu einer gänzlich anderen Lösung. In diesem konkreten Fall wird in einer zweiten qualitativen Studie das Verhalten der älteren Menschen beobachtet, indem sich Mitarbeitende des Flughafens längere Zeit auf den Toiletten aufhalten und sich dabei für lange Zeit die Hände waschen. Das Ergebnis: Die älteren Menschen suchen die Toilette häufig nur deshalb auf, weil dort die Ansagen zum Boarding von Flügen oder Verspätungen sehr viel besser zu verstehen sind. Die zu entwickelnde Lösung stellt sich durch diese erweiterte Erkenntnis somit gänzlich anders dar. Das Problem sollte also zunächst immer erst von allen Seiten und mit unterschiedlichen Marktforschungsmethoden beleuchtet werden, bevor man dafür eine Lösung anvisiert.

„Wenn ich eine Stunde Zeit hätte, um ein Problem zu lösen, würde ich 55 Minuten damit verbringen, über das Problem nachzudenken und fünf Minuten über die Lösung.“
Albert Einstein

2 Vom Sammeln zum Ordnen

Es wird zwischen Arbeitsphasen, in denen Informationen und Ideen gesammelt werden und solchen, in denen diese dann geordnet und priorisiert werden, unterschieden. Sowohl im Problem- als auch im Lösungsraum geht es zunächst darum, möglichst viele Aspekte des Problems zu beleuchten beziehungsweise möglichst viele Ideen für eine Lösung zu sammeln (Divergenz). Im Anschluss daran werden die gesammelten Aspekte strukturiert, verbunden und in Beziehung zueinander gesetzt, um das Problem umfassend zu verstehen oder die wirklich passende Idee zum Problem zu identifizieren, die in einen Prototyp überführt werden kann (Konvergenz).

3 Geplante Wiederholungen

Innovationsprozesse sind in der Regel iterativ (sich wiederholend) angelegt. Das bedeutet, dass die konkrete (Weiter-)Entwicklung von digitalen Services und Produkten vom Kleinen zum Großen erfolgt. Der in der Abbildung skizzierte Prozess, der vom Problem- zum Lösungsraum in divergenten und konvergenten Phasen verläuft, wird also nicht nur einmal durchlaufen, sondern mehrfach.
Zudem ist es möglich, dass an einem bestimmten Punkt festgestellt wird, dass eine Idee den Kern eines Problems nicht trifft (bspw. dass ein getesteter Prototyp das Problem nicht löst) und man deshalb noch einmal genauer auf das Problem schaut und somit im Prozess wieder weiter hinten ansetzt, bevor man sich der modifizierten Lösung widmet.

Grafik Problemraum-Lösungsraum

Die Durchführung von Iterationen hat den großen Vorteil, dass auch in einem kleineren Rahmen Services und Produkte erstellt und ausprobiert werden können, ohne viel Budget für eine komplexe Lösung verausgaben zu müssen, deren Marktfähigkeit bei Gästen noch gar nicht sicher ist. Ein solches Vorgehen schützt insbesondere vor dem fast ironischen Phänomen, mit dem gegebenen Budget und im gesetzten Zeitrahmen eine perfekte Lösung für das falsche Problem zu entwickeln. Die Wiederholungen werden also bewusst früh im Prozess eingeplant und hierdurch einfache Lösungen realisiert, die auch getestet werden, anstatt linear zu planen und dann in einem späten Entwicklungsstadium gezwungen zu sein, die Lösung noch anzupassen – was dann in der Regel mit hohen Kosten verbunden ist (siehe hierzu die Abbildung).

Grafik this is service design

Fake it until you make it!

Das Ziel ist es daher, mit möglichst geringem Budget- und Zeiteinsatz zu einem Prototyp zu gelangen, der ein Testszenario ermöglicht. Dieser Umstand sollte bereits bei der Entwicklung mit einkalkuliert werden. Nach dem Motto „Fake it until you make it“ können derartige Prototypen unterschiedliche Formen annehmen und sowohl digital als auch analog am Markt getestet werden. Hierzu gehören insbesondere vorgetäuschte Verkäufe: Produktvideos täuschen die Fertigstellung eines Produktes vor und erfassen in Kombination mit der Möglichkeit zu einer fingierten Bestellung als Call-to-Action das Kaufinteresse. Bei digitalen Services helfen oft auch sogenannte Clickdummys, mit welchen relevante Unterseiten und Funktionen für Websites oder Apps bereits getestet werden können, ohne das gesamte Portal aufzusetzen.
Analog kann dies in Form von Einschreibungen in Interessentenlisten oder in Form von Vorverkäufen umgesetzt werden. Wichtig dabei ist jeweils, dass das hier angebotene Produkt jeweils so aufbereitet wird, dass Kunden und Kundinnen ein Gefühl für das fertige Endresultat erhalten. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Minimum Viable Product (MVP).

Grafik Formen der Verkäufe

Im Fokus solcher Tests steht der Blick der Nutzerinnen und Nutzer auf den Service oder das Produkt. Gäste sollten daher explizit und aktiv in die Produktentwicklung mit einbezogen werden.

Did you ask your F***ing Customer?

Diejenigen, welche die Produkte entwickeln, sollten immer einen tatsächlichen Abgleich mit Gästen vornehmen, um so schon früh ein Gefühl dafür entwickeln zu können, wie das Produkt konstituiert sein muss, um am Markt zu bestehen. Diese Erkenntnisse fließen dann in die Produktentwicklung mit ein. Ein einfacher Weg, wie Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer (in ihrer Rolle als Entscheidungsträger) und Produktentwicklerinnen und Produktentwickler stets ein Gefühl für ihre Gäste behalten können, ist, immer wieder in der Tourist-Info zu hospitieren. Zudem sollten zwingend diejenigen, die täglich Gäste beraten, in Produktentwicklungsprozesse mit einbezogen werden, da sie ohnehin „nah“ an den Gästen sind.

Praxisblick

Auch ein enger Kontakt zu den regionalen Erzeugern kann dabei helfen, ein Gefühl für die Bewohnerinnen und Bewohner einer Region zu entwickeln. Das Projekt „handgemacht“ vom Saale-Unstrut-Tourismus e.V. geht auf Produzenten und Eventanbieter der Region zu, vernetzt diese und gibt ihnen über den Tourismusverband eine Sichtbarkeit. So kann das Angebot aus der Region fühlbar, schmeckbar, hörbar und erlebbar gemacht werden. Das Projekt selbst kann sich dabei dynamisch weiterentwickeln und der Kontakt zwischen Tourismusverband und den Produzenten ist entsprechend eng.

Woran hapert es noch?

Gerade auf der Ebene der DMOs sind Produktentwicklungen oftmals in Fördervorhaben eingebunden. Diese erlauben es in der Regel nicht, dass die eingereichten Ideen abgeändert werden. Oftmals selbst dann nicht, wenn schon in der Entwicklung deutlich wird, dass das marktreife Ergebnis nicht auf Gästeseite angenommen werden wird. Der Spielraum, den DMOs dann haben, ist meist eher begrenzt. Oft erfolgt auch gar kein Abgleich mit den Gästeerwartungen, stattdessen wird das Produkt nach der Bewilligung entwickelt und erst bei der Einführung stellt sich heraus, ob die ursprüngliche Idee am Markt Bestand hat, oder nicht. Es ist daher wichtig, dass bei Fördervorhaben eine agile Produktentwicklung bereits in der Antragstellung berücksichtigt wird. Das Projektziel ist daher zwar konkret zu benennen, aber gleichzeitig sollte noch genügend Spielraum gelassen werden, um Anpassungen im Verlauf des Projektes zulassen zu können.

Wie bringen wir Produktentwicklung und Open Data zusammen?

Datenmanagement und Open Data sind in den vergangenen Jahren zu einer Kernaufgabe von denjenigen DMOs geworden, die sich zukunftsfähig ausrichten möchten. Gleichzeitig kann Datenmanagement nicht losgelöst von anderen Zielen der DMO gesehen werden und wäre in einer Reinform langfristig auch nicht förderfähig. Datenmanagement ist per se kein Selbstzweck. Genauso wenig, wie es die Digitalisierung ist. Beides muss immer an ein übergeordnetes Ziel gekoppelt sein, das im besten Fall förderfähig und der Digitalisierung der Destination zuträglich ist. Hier bieten sich beispielsweise Themen wie Nachhaltigkeit oder Barrierefreiheit an, die sowohl einem politischen Auftrag gerecht werden als auch sehr gut mit dem Thema Datenmanagement verbunden werden können – man denke nur an die vielen Projekte im Bereich des digitalen Besuchermanagements.

Praxisblick

Die Freizeitampel Baden-Württemberg ist ein landesweites Instrument zur digitalen Besucherlenkung und soll Gäste und Tagesreisende zur aktuellen und prognostizierten Auslastung an ihrem Ausflugsziel informieren. Neben dem Besucheraufkommen informiert die Freizeitampel zudem über Zugangsvoraussetzungen (3G-Regel, Kontaktnachverfolgung und Onlinetickets), die 7-Tages-Inzidenz und die damit verbundenen gültigen Verordnungen sowie über Parkmöglichkeiten und die Mobilität mit dem ÖPNV am Reiseziel.

Wie kann das umgesetzt werden?

Ein Weg dorthin, wie eine DMO aktiv Einfluss auf diese Art der Produktentwicklung nehmen kann, ist, indem sie Innovationscoaches ausbildet, die in Innovationsmethoden geschult sind und Prozesse als Externe temporär moderieren können. Wenn diese „Ambassadore“ die Innovationsmethoden (aus den Bereichen Service Design; Design Thinking) verstehen und weitergeben können, dann kann über dieses methodische Handwerkszeug eine gemeinsame „Sprache der Produktentwicklung“ etabliert werden.

Petra Hedorfer, Vorstandsvorsitzende der Deutschen Zentrale für Tourismus (DZT)

Eric Horster

Fachhochschule Westküste

Eric Horster ist Professor an der Fachhochschule Westküste im Bachelor- und Masterstudiengang International Tourism Management (ITM) mit den Schwerpunktfächern Digitalisierung im Tourismus und Hospitality Management. Er ist Mitglied des Deutschen Instituts für Tourismusforschung.

Mehr zur Person unter: www.eric-horster.de