Der deutsche Reisemarkt ist kleinteilig. Das Management von Destinationsdaten, POIs und anderen Erlebnispunkten wird daher zur zentralen Aufgabe. Offene Datensätze, der Knowledge Graph für das Reiseland Deutschland und der Einsatz künstlicher Intelligenz sorgen in der Folge nicht nur für mehr Sichtbarkeit – sondern werden zur Basis neuer Anwendungen und Services.
Thomas Reintjes, freier Wissenschafts- und Technikjournalist
„Ich möchte nach Ibiza.“ So könnte eine Anfrage an das System von Adigi lauten. Aber, sagt Gründer Nicolas Götz, „die wenigsten wollen einfach nur nach Ibiza, sondern sie sind an einem Partyurlaub interessiert.“ Die künstliche Intelligenz (KI) des Unternehmens, spezialisiert auf die Automatisierung von Online-Reisebüros und Reiseveranstaltern, soll auf entsprechende E-Mails von Kunden selbstständig mit passenden Angeboten antworten – oder mit Rückfragen, um das Angebot einzugrenzen. „Ich kann aber nicht einfach fragen: Möchtest du wirklich nach Ibiza oder geht es dir nur um Party?“, sagt Götz. Stattdessen experimentiere sein Unternehmen gerade mit Bildwelten und dazugehörigen Fragen. Zum Beispiel: „Welches Bild trifft Ihr Bedürfnis am besten?“
Enthält die Kundenanfrage jedoch einen Buchungswunsch für zwei Erwachsene und zwei Kinder, würde sich die Frage erübrigen. Dann kann die KI automatisch familienfreundliche Hotels heraussuchen. Genauso werden, soweit möglich, andere Informationen aus der E-Mail extrahiert: Reisedaten, Abflughafen, Hotelklasse. Das im nächsten Schritt mit den passenden Pauschalreise-Angeboten abzugleichen, „ist einfach“, sagt Götz bescheiden – jedenfalls im Vergleich zu anderen Urlaubsarten.
Zersplitterte Märkte werden für KI-Systeme zur Herausforderung
Anfragen nach einer Ferienwohnung an der Ostsee oder Urlaub auf einem Bauernhof im Allgäu wären für eine KI ungleich schwieriger zu beantworten. Der Markt sei zersplittert, attestiert Götz: „Es gibt nicht den einen großen Anbieter, der alle Angebote im Portfolio hat.“ Zu viele verschiedene Buchungssysteme, alle mit ihrer eigenen Logik und eigenen Kriterien und Attributen, die den Angeboten zugewiesen werden. Bei Pauschalreisen, wofür Adigi eine Anbindung an Amadeus nutzt, sei hingegen jedes Hotel mit Hunderten standardisierten Attributen von Netzspannung bis zur Größe des Frühstücksraums versehen – und entsprechend online sichtbar.
Für eine vergleichbar gute Sichtbarkeit von Destinationsdaten und POIs in Deutschland zu sorgen bleibt eine große Herausforderung, aber auch ein wichtiges Unterfangen. Bei der Deutschen Zentrale für Tourismus e. V. werden mit der Entwicklung des Knowledge-Graph-Projektes dafür die Grundlagen geschaffen. Über die Landesmarketingorganisationen werden dazu detaillierte und hochwertige Daten über deutsche Destinationen in einer Datenbank zusammengetragen. Dem Content wird dann eine semantische Notation mitgegeben. Die zugrunde liegende Ontologie fußt auf Schema.org, einer Art Wörterbuch für strukturierte Daten. So ist sichergestellt, dass die Inhalte einheitlich ausgezeichnet werden und die vergebenen Attribute einer bestimmten Hierarchie folgen.
Verknüpfte Datenpunkte für sinnhafte Angebote
Dies ermöglicht es, die einzelnen Inhalte miteinander in Beziehung zu setzen. Das geschieht in einer sogenannten Graph-Datenbank. Jeder einzelne Datenpunkt ist darin Teil eines Netzwerks und hat Verbindungen zu vielen anderen Datenpunkten. Daraus lässt sich dann etwa ableiten, welche Gasthöfe entlang eines Wanderwegs liegen oder welcher Strand sich per Bahn erreichen lässt.
Solche Datenauswertungen werden aus dem Knowledge Graph heraus möglich. Die DZT stellt die Daten semantisch strukturiert zur Verfügung. Die Entwicklung von Anwendungen findet dann in Startups oder anderen innovativen Unternehmen statt. Deshalb ist es so wichtig, die Daten „offen“ zur Verfügung zu stellen, also prinzipiell für jeden abrufbar und versehen mit einer Lizenz, die die kostenlose Verwendung und kommerzielle Verwertung erlaubt.
Die DZT stellt die Daten semantisch strukturiert zur Verfügung. Die Entwicklung von Anwendungen findet dann in Startups oder anderen innovativen Unternehmen statt.
High-Tech-Startups entstehen
„Daten sind wichtig, um Deutschland für touristische Anwendungen erschließbar zu machen“, sagt auch Dr. Tanja Emmerling, Partner beim High-Tech Gründerfonds (HTGF). „Aber die Branche ist noch relativ weit weg davon, Datenpunkte und Automatisierung zu nutzen, um neue Angebote zu schaffen.“ Schon 2015 hat der High-Tech Gründerfonds zum Beispiel das Berliner Unternehmen Bookingkit mit Startkapital ausgestattet, um die Branche der Freizeitanbieter zu digitalisieren. Mit dem Geld haben die Berliner eine Software entwickelt, die lokale Anbieter von Attraktionen und Erlebnissen beim digitalen Verkaufen, Verwalten und Vermarkten unterstützt – aber es gibt noch zu wenige solcher gut finanzierten Startups. Emmerling sieht dennoch gute Chancen, „dass neue KI-Startups auch im Deutschlandtourismus entstehen“. Digitalisierung ist für sie ein wichtiger Schritt, bevor weitere Daten automatisiert und verarbeitet werden können. Hier habe die Branche viel aufzuholen.
Mit dem Knowledge Graph, der offenen Graph-Datenbank, die die DZT gerade aufbaut, könnten sich für Startups wie Bookingkit oder Adigi ganz neue Möglichkeiten eröffnen. „Das wird uns unheimlich helfen“, sagt Nicolas Götz von Adigi. Er will die Aktivitäten seines Unternehmens über das Geschäft mit Pauschalreisen hinaus ausdehnen – zunächst wohl auf Kreuzfahrten, aber auch auf Urlaub in Deutschland. Informationen über Ziele und Unterkünfte, die in einem standardisierten Format abrufbar sind, würden ihm das ermöglichen. Außerdem sieht er Chancen, sein Geschäftsmodell auszuweiten und Kunden nicht nur einen Urlaub, „sondern auch gleich die dazu passenden Ausflüge und Aktivitäten anzubieten“, so Götz.
Verschiedene Datenquellen zusammenführen
Vor allem die Pandemie hat gezeigt, „wie wichtig die Verknüpfung verschiedener Datenquellen auch im Reisebereich wäre“, sagt Dr. Tanja Emmerling. Heute müssten sich Reisende Informationen über die aktuelle Lage am Zielort mühsam zusammensuchen und schlussfolgern, was das für die Reise und zugehörige Buchungen bedeutet. Würden Daten zusammengeführt, könnte KI-gestützt ein viel besseres Kundenerlebnis entstehen, „und zwar für die vollständige Reise von der Mobilität über die Bezahlung bis zum Erlebnisangebot und so weiter“, ist Emmerling überzeugt. Doch dafür mangele es eben noch an der Verfügbarkeit von Daten – nicht nur touristischen. Denn bei personalisierten Angeboten setzt der Datenschutz Schranken. „Aber auch dafür wird es technische Lösungen geben“, meint Emmerling.
Kein Mangel an Daten herrscht bei großen Internetkonzernen wie Facebook und Google. Vor allem Google hat in den vergangenen Jahren die Buchung von Angeboten – vom Flug bis zum Restaurantbesuch – über seine eigene Plattform ausgebaut. Viele kleinere, regionale oder lokale Anbieter sind dort aber nicht zu finden. Die offenen Daten, miteinander in Beziehung gesetzt im Knowledge Graph der DZT, werden Destinationen auf den Suchmaschinen zu mehr Sichtbarkeit verhelfen. Vor allem werden aber neue Anwendungen und Services entstehen, die auf bestimmte Regionen oder bestimmte Zielgruppen spezialisiert sind.
Bei personalisierten touristischen Angeboten setzt der Datenschutz Schranken, aber auch dafür wird es technische Lösungen geben.
Dr. Tanja Emmerling, Partner High-Tech Gründerfonds
Potenzial für B2B-Anwendungen
Platz für neue Player im Markt sieht Dr. Tanja Emmerling durchaus. Zwar sei Tourismus einerseits „ein Markt, der stark davon bestimmt ist, wer die meisten Daten hat, sie am zugänglichsten und am operationalisierbarsten macht“, was Konsolidierung begünstigt. Gleichzeitig böten sich viele Chancen, ohne Mittelsmänner zu arbeiten und Kunden zu erschließen. Weiteres Potenzial sieht Emmerling vor allem im Hintergrund, im B2B-Sektor: „Erkennung und Verarbeitung von Daten, Matching, das Enablen vorhandener Systeme, das muss alles erschlossen werden. Da ist noch viel Potenzial in der Tourismusbranche.“
Das Unternehmen von Nicolas Götz ist ein Beispiel für eine B2B-Anwendung, die auf Daten basiert, die andere prinzipiell genauso nutzen könnten. Die KI von Adigi, die Kunden-E-Mails auswertet, um Buchungsangebote zu offerieren, verkauft Götz an Reisebüros und Online-Anbieter. Dass bei offenen Daten implizit ist, dass sie jedem zur Verfügung stehen, stört ihn nicht.
Prognose von Besucherströmen
Die weit verbreitete Sorge, künstliche Intelligenz würde menschliche Arbeitskräfte ersetzen, zerstreut Götz ebenfalls. Die KI unterstütze die Reiseberater. Aber die Menschen, ob im Call Center, Reisebüro oder der Tourist-Information, seien es, „die ein Gespür dafür haben, was Kunden wollen“. KI kann helfen, für diese Bedürfnisse schnell entsprechende Angebote zu finden.
In Zukunft sollen die Anwendungen darüber aber noch weit hinausgehen. So könnte beispielsweise eine App einem Geschäftsreisenden Empfehlungen für Freizeitaktivitäten nach getaner Arbeit geben. Im Hintergrund könnte eine KI in derselben Stadt Veranstaltungsdaten, Wetterdaten und Buchungsdaten zusammenführen und daraus Verkehrsströme vorhersagen, Parkplatzkapazitäten im Blick behalten oder die Verteilung von Taxiflotten über die Stadt planen. Genauso könnte man auch prognostizieren, wie häufig in einem Naturschutzgebiet die Mülleimer geleert werden müssen.
Live-Betrieb ab Mitte 2022
Dass Vergleichbares schon heute möglich ist, zeigt etwa der „Strandticker“, mit dem auf Basis von Sensordaten sowie Wetterinformationen und abhängig von der Jahreszeit Besucherströme an den Stränden der Lübecker Bucht gelenkt werden. Und in New York hat das dort ansässige Unternehmen Foursquare eine Partnerschaft mit dem Betreiber der überall in der Stadt aufgestellten „LinkNYC“-Displays. Diese bieten Bürgern und Besuchern nicht nur eine Möglichkeit, das Handy zu laden, sondern auch auf den jeweiligen Standort zugeschnittene Informationen. Zuletzt kam eine Vorhersage von Menschenmengen hinzu: Die Displays zeigen beispielsweise an, wann es in den Supermärkten der Umgebung wie voll ist.
Mit dem Einstellen und Pflegen von Daten legen Tourismusverbände in ganz Deutschland gerade die Grundlage für neue Wege, Ziele und Aktivitäten. Das Basissystem steht. Jetzt geht es ans Testen der Funktionen, bevor der Knowledge Graph 2022 in den Livebetrieb geht.
Thomas Reintjes
Thomas Reintjes ist freier Wissenschafts- und Technikjournalist. Aus New York schreibt und berichtet er für Magazine und Rundfunksender. Für seine Arbeit wurde der 44-Jährige mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 2016 mit dem Georg von Holtzbrinck Preis für Wissenschaftsjournalismus für das Radiofeature „Maschinen lügen nicht – Wenn Roboter mit der Wahrheit spielen“.